Globalisierung, Digitalisierung, Klimawandel – und nun auch noch die Pandemie. Möglichst kostengünstig auf anderen Kontinenten zu produzieren, war lange ein sehr einträgliches Geschäft. Doch in Krisenzeiten erweist sich das als schlechte Idee. Dringend benötigte Arzneistoffe etwa in Indien oder China herzustellen oder OP-Masken nur aus Asien zu beziehen, werden zum Problem, wenn Lieferketten ins Stocken geraten. Aber auch was die Schlüsselkomponenten moderner Hochtechnologie angeht, sollte das Motto in Europa lauten „Souveränität statt Abhängigkeit“, meint Thomas Schröder, Direktor des Leibniz-Instituts für Kristallzüchtung (IKZ). „Es geht nicht darum, dass jeder komplett sein eigenes Ding macht. Sondern zu definieren, welche Dinge man ausreichend selbst können sollte, um nicht manipulierbar zu sein.“
Im Bereich der Arzneistoffe gibt es bereits Bemühungen wieder europäische Quellen aufzubauen. Aus Schröders Sicht bedarf es unter anderem bei der effizienten Leistungselektronik europäische Souveränität. Denn hier geht es nicht nur um Technologievorsprung, sondern auch um sehr viel Geld.
Elektronik beginnt beim Material. Und das sind hochreine Halbleiterkristalle, wie sie am IKZ gezüchtet und charakterisiert werden. Der Wertschöpfungsmarkt dafür liege in Europa bei rund 400 Milliarden Euro, erzählt Schröder. Die entsprechende Elektroindustrie hätte aber bereits einen Wert von 4.5 Billiarden Euro. Und geht es konkret um die Anwendung in Digitalisierung, sozialen Medien etc., nähme sie nochmal um 50 Billiarden Euro zu. „Vom Halbleiterkristall bis zum Dienstleister in der Digitalisierungsbranche steigt der Wert also um den Faktor 120!“ Den Großteil der Wertschöpfungskette freiwillig China oder den USA zu überlassen, ist also schon rein wirtschaftlich keine Option.
Die Digitalisierung ist nur ein Anwendungsbereich von vielen. Diese Bausteine sind nämlich überall da gefragt, wo Strom geschaltet und umgewandelt werden muss. Stichwort Energiewende. „Während es in der kohlenstoffbasierten Energiewirtschaft eine gute Idee war, noch einmal zehn neue Kraftwerke in die Landschaft zu stellen, um ausreichend Strom in die Netze einspeisen zu können, geht es bei den Erneuerbaren hin zu dezentralen Energieversorgern. Energiegewinnung, -transport, -wandlung, -speicherung und -verbrauch – das alles muss noch einmal komplett neu gedacht werden“, sagt Schröder. Smarte Netzwerke mit ausgeklügelten Steuermechanismen sollen dafür sorgen, dass die Netze stabil bleiben. An allen Schnittstellen schalten und walten effiziente Leistungselektronikbausteine.
Stichwort Elektromobilität: Seitdem die staatlichen Zuschüsse stiegen, boomen Elektroau-tos. Doch so einfach es klingt – Stecker rein, aufladen, weiterfahren – dahinter steht jede Menge Technik. Vor allem unterirdisch. Ohne Leistungselektronikbausteine wäre individuelle Elektromobilität undenkbar. „Eine hohe Energiemenge muss an einer Autobahnraststätte innerhalb kürzester Zeit von etwa 30 Minuten in ein Auto geladen werden. Und das nicht einmal, sondern typischerweise hundertmal gleichzeitig bei einem typischen Besucherstrom!“ Ein sehr hoher Strom fließt dabei, von dem nur eine minimale Menge in Wärme umgewandelt werden darf, weil einem sonst die Ladestation um die Ohren fliegen würde. Zudem liegen die Raststätten in der Regel nicht in Ballungsräumen, sondern „mitten in der Pampa“. „Dementsprechend muss die gesamte Infrastruktur dafür dorthin gebracht werden. Dazu bedarf es letztlich ganz neuer Technologien und damit innovativer Kristalle für Leistungselektronik.“
Je nach gewünschter Leistung kommen verschiedene Materialien zum Einsatz. Im Niederspannungsbereich wird meist Float Zone Silizium (FZ-Si) verwendet, das in Form hochreiner Einkristalle im Zonenschmelzverfahren gewonnen wird. „Es ist gut genug für die Elektromobilität. In höheren Spannungsbereichen kann es den Strom aber nicht mehr so gut sperren“, erklärt Schröder. Dies gelingt mit Siliziumcarbid (SiC), mit dem eine Erlanger Firma lange den europäischen Markt bediente. Doch sie wurde von einem japanischen Investor gekauft, der nun in Zeiten der Materialknappheit vorrangig den heimischen Markt beliefert. Zum Leidwesen der europäischen Kunden. Ähnlich gut arbeiten aber auch Bauelemente auf Basis von Galliumnitrid (GaN). An allen drei „Kristallspezialitäten“ wird am IKZ geforscht.
Derzeit steht am Institut Galliumoxid (Ga2O3) im Fokus. Ein Material, das auf dem Papier von der Physik her noch weit besser funktionieren soll. Erste Weltrekordtransistoren wurden in Berlin in einer gemeinsamen Forschungsanstrengung des IKZ, der Firma CrysTec und dem Ferdinand-Braun-Institut veröffentlicht. Einzelbauteile sind noch keine Produktionstechnologie; in den kommenden Jahren müssen industrietaugliche Prototypen erforscht werden. Kristalle, deren Zukunft erst noch kommt und die neue, spannende Technologien ermöglichen, haben die größte Hebelwirkung bezüglich der Wertschöpfungskette. „Jetzt frühzeitig Patente setzen, akademische Publikationen schreiben, Prozesse und Technologien entwickeln und dann über Technologie-Transfer zu Firmen oder eigenen Start-ups in die Kommerzialisierung gehen – das ist unser Ziel“, sagt Thomas Schröder. Wie vieles fängt auch Technologie-Souveränität im Kleinen an. Beim reinen Kristall.
Text: Catarina Pietschmann