Als Rudolf Virchow im Oktober 1839 sein Medizinstudium in Berlin begann, galt in der Medizin noch die Viersäftelehre aus der Antike. Keine zwei Jahrzehnte später mussten die Lehrbücher neu geschrieben werden: Der zwischenzeitlich zum Dr. med. promovierte Virchow konnte zeigen, dass der gesamte menschliche Körper aus Zellen besteht und sich diese winzigen Einheiten morphologisch verändern können. Mit Virchows revolutionärer „Zellularpathologie“ war ein völlig neues Verständnis von Krankheitsursachen gefunden. Seine Lehre gilt bis heute und legte den Grundstein der modernen, wissenschaftlich begründeten Medizin.
Dabei waren die Voraussetzungen für eine derart folgenreiche Entdeckung aus heutiger Sicht bescheiden. Virchow betrachtete Gewebeproben unter einem einfachen Mikroskop mit Hilfe eines Spiegels und Sonnenlicht. Um Zellstrukturen sichtbar zu machen, färbte er das Gewebe mit Farbstoffen ein, die Chemiker für ihn zusammenmischten. 20 Krankheiten diagnostizierte der Urheber der zellulären Pathologie auf diese Art und Weise, darunter Leukämie und Thrombosen.
Ärzte und Wissenschaftler des 21. Jahrhunderts arbeiten immer noch mit Färbeverfahren, wenn sie morphologische Muster von Zellen erkennen wollen; ein bekanntes Beispiel ist die Feindiagnostik von Krebs. Nur, dass es heute fluoreszierende Farbstoffe sind und sich das Equipment ein wenig von dem des 19. Jahrhunderts unterscheidet.
Ein Blick in die Screening Unit am FMP in Berlin Buch zeigt, wie sich die Dinge weiterentwickelt haben: Die State of the Art Technologie besteht aus einem vollautomatisierten konfokalen Mikroskop, das mit zwei Kameras ausgestattet ist und für jede einzelne Zelle 1.000 morphologische Eigenschaften automatisch erfasst. Da knapp 400 Experimente gleichzeitig auf einer Testplatte (200 gibt es davon in der FMP-Wirkstoffbibliothek) durchgeführt werden können, entstehen allein bei einem Durchlauf nicht weniger als 400 Millionen Datensätze. Selbst ein Vordenker wie Rudolf Virchow wäre nicht in der Lage, diese Datenmengen zu analysieren. Das hochauflösende Mikroskop ist darum mit einer Flotte an Hochleistungsrechnern verbunden, die mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz selbst schwächste Veränderungen in Zellen aufdecken und bestimmten Klassen respektive Krankheiten zuordnen können.
„Wir arbeiten in Virchows Tradition, aber mit einer Computerpower, die sich damals niemand vorstellen konnte“, erzählt Screening-Unit-Leiter Dr. Jens von Kries. „Virchow 2.0“ nennt er das Konzept der computergestützten Mustererkennung, das sich für die Wirkstoffsuche ebenso eignet wie für die Diagnostik von Krankheiten.
Derzeit nutzt das Team um von Kries die neue Technologie zur Zelltoxizität-Profilierung. Die Forscher wollen herausfinden, welche der 70.000 chemischen Substanzen aus ihrer Wirkstoffbibliothek giftig sind. Die Klassifizierung soll das von Roboterarmen assistierte Wirkstoff-Screening künftig noch effizienter machen.
„Virchow 2.0“ soll bald auch für die personalisierte Medizin eingesetzt werden. Wenn zum Beispiel Krebspatienten Resistenzen gegenüber Medikamenten entwickelt haben, können die Forscher anhand von Gewebeproben nach alternativen Arzneimitteln suchen. Entsprechende Anfragen aus Virchows langjähriger Wirkungsstätte – der Charité – liegen bereits vor. Weitere Anwendungsfelder sind laut Jens von Kries geplant, und auch die maschinelle Mustererkennung sei noch nicht ausgereizt. „Virchow hat Grenzen verschoben“, sagt er, „und wir versuchen das ebenfalls mit den technologischen Möglichkeiten von heute.“
Beatrice Hamberger