Für immer mehr Tierarten reichen traditionelle Ansätze wie Habitatsicherung oder Erhaltungszucht nicht mehr aus, weil die Bestände eine kritische Grenze unterschritten haben. Das nördliche Breitmaulnashorn führt diese Situation exemplarisch vor Augen: In seinem natürlichen Lebensraum kommt es seit circa 30 Jahren nicht mehr in nennenswerter Zahl vor, eine Schutzinitiative im Nordosten Kongos oder im Südsudan liefe also ins Leere. Auch in menschlicher Obhut ist mit genau zwei verbliebenen Tieren (Mutter und Tochter) an klassische Zuchtprogramme nicht mehr zu denken. Für das Sumatra-Nashorn ist die Lage ähnlich prekär: Nur wenige Dutzend der kleinen, behaarten Nashörner Südostasiens gibt es noch – viel zu wenige, als dass sie sich regelmäßig treffen und reproduzieren könnten. Selbst wenn alle noch verbliebenen Sumatra-Nashörner in einem Zuchtzentrum zusammengeführt würden, wären die Chancen auf Nachwuchs gering: Durch ausbleibende Paarung der verstreut lebenden letzten Tiere sind ihre Reproduktionsorgane häufig degeneriert und ihre natürliche Fortpflanzungsfähigkeit enorm reduziert.
Letzte Hoffnung: Umweg über das Labor
Strategien 1 und 2 – Habitatsicherung und Erhaltungszucht – versprechen also keine Erfolge für diese ökologisch wichtigen Schlüsselarten. Im Jahr 2019 startete daher ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes und am Leibniz-IZW angesiedeltes Konsortium, eine dritte Strategie zu entwickeln. Diese beruht darauf, dass Embryonen nicht mehr durch Befruchtung im Körper des Muttertieres entstehen, sondern durch In-vitro-Fertilisation im Labor. Dafür werden Eizellen und Spermien benötigt. Im Falle der nördlichen Breitmaulnashörner konnten die „BioRescue“-Wissenschaftler*innen um Prof. Thomas Hildebrandt Eizellen von Weibchen Fatu gewinnen und im Labor mit aufgetautem Sperma von bereits verstorbenen Bullen befruchten – über 20 Embryonen entstanden auf diesem Wege. Ausgetragen werden sollen sie von Leihmüttern des Südlichen Breitmaulnashorns – die einzig verbliebene Möglichkeit zur Rettung der Art.
Auch für die Sumatra-Nashörner ist diese dritte Strategie ein möglicher Weg, die Bestandszahlen zu stabilisieren. Hier könnte das BioRescue-Team noch auf etwas mehr Individuen zurückgreifen, die Eizellen und Sperma (Gameten) liefern könnten. Doch bei beiden Arten sind die Verfügbarkeit und genetische Variabilität der Gameten der Flaschenhals des Programms. Neben Fatus Eizellen kann das Programm auf gefrorenes Sperma von nur vier Bullen des nördlichen Breitmaulnashorns zurückgreifen – und einige dieser Männchen sind eng mit Fatu verwandt. Dies ist in doppelter Hinsicht nachteilig: Zum einen können Eizellen nur in geringer Zahl und in aufwändigen Prozeduren gewonnen werden und zum anderen ist die genetische Vielfalt der möglichen Nachkommen auf diesem Wege beschränkt. Mit stammzellassoziierten Techniken (SCAT) will BioRescue diesen Engpass überwinden: Aus konservierten Gewebeproben sollen induzierte pluripotente Stammzellen (iPCS), Urkeimzellen (primordial germ cells, PGCs) und schließlich künstliche Gameten erzeugt werden. Statt von fünf könnte auf diesem Wege das genetische Erbe von zwölf nördlichen Breitmaulnashörnern in die künftige Population einfließen und Gameten in hoher Zahl im Labor erzeugt werden. Stammzellspezialist*innen in den Laboren von Dr. Sebastian Diecke am Berliner Max Delbrück Center und Prof. Katsuhiko Hayashi der Universität in Osaka, Japan, sind dafür essenzieller Bestandteil des BioRescue-Konsortiums.
Wissenschaftliches Neuland: Aus Stammzellen sollen Nashorn-Keimzellen werden
„Wir werden also auf lange Sicht nicht nur eine Strategie 3 brauchen, sondern auch eine Strategie 3.2, die Stammzelltechnologie heißt“, sagt BioRescue-Projektleiter Hildebrandt. „Nur unter Einbeziehung dieses Weges können wir eine nachhaltig lebensfähige Nashorn-Population in Zentralafrika und Südostasien erreichen.“ Bis es soweit ist, gilt es jedoch, enorme Herausforderungen zu meistern, denn jeder einzelne Schritt von der konservierten Gewebeprobe eines Nashorns bis zu künstlichen Eizellen oder Spermien ist wissenschaftliches Neuland. Gemeinsam mit den Konsortialpartnern konnte das Leibniz-IZW jüngst wichtige Erfolge vermelden: Am Max Delbrück Center erzeugten die BioRescue-Partner Dr. Vera Zywitza und Dr. Sebastian Diecke erstmals induzierte, pluripotente Stammzellen vom Sumatra-Nashorn. Die Zellen stammen vom Nashornbullen Kertam, dem letzten Männchen Malaysias. In Malaysia gilt die einzige behaarte Nashornart seit dem Tod von Kertam im Jahr 2019 und der Kuh Iman, die ihn nur wenige Monate überlebte, als ausgestorben. Der jüngste Erfolg lässt jedoch die Möglichkeit offen, dass Kertam und andere schon verstorbene Tiere noch Nachkommen erzeugen können.
Dass auch der nächste Schritt der Stammzell-Strategie machbar ist, bewies das Konsortium in einem weiteren jüngsten Erfolg: Spezialisten der Universität Osaka um Masafumi Hayashi und Katsuhiko Hayashi gelang es gemeinsam mit dem Diecke-Labor und den weiteren BioRescue-Partnern, aus induzierten pluripotenten Stammzellen vom nördlichen Breitmaulnashorn Nabire sogenannte Urkeimzellen zu erzeugen. Nabire lebte im tschechischen Zoo Dvůr Králové und starb dort im Jahr 2015 ohne Nachkommen. Urkeimzellen (PGCs) sind die direkten Vorläufer der Gameten und das entscheidende Bindeglied zwischen den Stammzellen und den Keimzellen wie Spermien und Eizellen. Um sie aus Stammzellen zu entwickeln, brauchen die PGCs eine ganz bestimmte Umgebung, in der Signale von Hormonen oder Proteinen die morphologische und funktionelle Weiterentwicklung auslösen. Zum ersten Mal bei großen Säugetieren ist es der Wissenschaft gelungen, eine solche Umgebung im Labor zu schaffen: Die BioRescue-Forschenden etablierten Kultursysteme für das südliche Breitmaulnashorn, für das embryonale Stammzellen verfügbar sind, und für das nördliche Breitmaulnashorn, für das sie aus Gewebeproben hergestellte iPCS verwendeten. Um erfolgreich zu sein, mussten sie herausfinden, welche Signale zu welchem Zeitpunkt und in welcher Reihenfolge in das System eingeführt werden mussten, um die Entwicklung zu PGCs auszulösen.
Auch Embryonen von künstlichen Gameten benötigen eine Leihmutter
Sobald die Herstellung künstlicher Gameten erfolgreich ist, wird dieser Plan mit der Strategie 3.1 zusammengeführt, die BioRescue mit natürlichen Gameten durchführt: Genau wie bei den von Fatu gewonnenen Eizellen und den aus gefrorenen Proben aufgetauten Spermien würden die künstlich erzeugten Eizellen und Spermien im Labor in-vitro befruchtet. Die erzeugten Embryonen würden sicher in flüssigem Stickstoff gelagert, bis ein Transfer in eine Leihmutter möglich ist. „Die beiden Wege, die wir gehen, sind also keine alternativen Routen, sondern hängen direkt miteinander zusammen. Wir brauchen beides, die fortgeschrittenen Methoden der assistieren Reproduktion und die Stammzelltechnologie“, sagt Hildebrandt. Erst wenn auf diese Weise Populationen von nördlichen Breitmaulnashörnern und Sumatra-Nashörnern geschaffen werden, können traditionelle Strategien wie Erhaltungszuchtprogramme und Schutz der Lebensräume wieder greifen.
Das Sumatra-Nashorn war Thema bei der Wissenschafts-Show „Echt oder Fake?“ beim 30 Jahre FVB-Event in der Berlin Science Week. Steven Seet, Leiter der Wissenschaftskommunikation am Leibniz-IZW, berichtete über die fast ausgestorbene Nashornart und merkte an, dass aus Hautzellen Stammzellen und sogar Vorläufer von Eizellen und Spermien erzeugt werden können. Trifft Letzteres wirklich zu – oder anders gefragt: Ist das echt oder Fake? Es ist echt!
Text: Jan Zwilling
Der Artikel ist im Verbundjournal 119 | 2022 mit dem Schwerpunkt "30 Jahre FVB" erschienen.